Ines Sebesta - Übersetzerin für Bulgarisch/Slowakisch und Autorin


Die Frauen von Warschau von Georgi Markov
(gemeinsam mit Dr. Rumiana Ebert übersetzt),
erschienen im Wieser Verlag

Zum Buch:
Was zu diesem Buch sagen?! Es spielt in einer absolut einsamen Gegend mit dem ungeheuer poetisch klingenden Namen Dschendem Bair (zu Deutsch, nun ja, Höllenhügel). 
Es gibt zwei männliche Protagonisten, die verschiedener nicht sein können, und vier Frauengeschichten... Kann das gut gehen? Nicht nur gut, vortrefflich geradezu, denn Georgi Markov erzählt die Geschichte mit ihren Geschichten atemberaubend schön...
Ein Tipp: man lasse sich im ersten Teil durch das Spiel der einsam agierenden Herren nicht auf die falsche Fährte locken - den vier Frauen wird es schon bald gelingen, viel Gefühl in den Roman zu bringen. Ein  Buch, das zu bezaubern vermag und nachklingt, nicht nur dieses Gefühls wegen.

Am nächsten Tag brachte der Junge mit dem Maultier
Pavel eine bunte Postkarte von Koko. Auf ihr war ein
Park mit unzähligen Springbrunnen und Figuren abgebildet,
und darunter hatte Koko geschrieben:
„Geh duschen!“
Pavel betrachte die Karte sehr lange und lächelte.
„Das ist aus Warschau“, sagte er zum Alten, der gerade
vom Überhitzen der Schafe sprach. Jordo warf einen
spöttisch-neugierigen Blick auf die Karte, drehte und
wendete sie in seinen Händen und bemerkte:
„Ach, hätten wir doch all dieses Wasser!“
Und er redete weiter über seine Schafe. Schließlich
schaute er sich die Karte noch einmal an und fragte, auf
eine der Skulpturen zeigend:
„Was ist das? Sicher ein Großkopferter?“
Die Frage war aus reiner Höflichkeit gestellt, ohne
jegliches Interesse, so wie man Dinge sagt, die bedeutungslos
sind oder sein müssen.
Sofort und mit Vergnügen begann Pavel ihm von den
Springbrunnen zu erzählen. Es war das erste Mal, dass er
von Warschau sprach.
Anfangs redete er etwas chaotisch, als störten ihn die
Anwesenheit und der spöttische Ausdruck des Alten und
besonders weil es unmöglich war, Dschendem Bair mit
Warschau zu vergleichen. Er fürchtete, mit seiner Erzählung
irgendwie Jordos Leben zu beleidigen, die Quelle
und die Eiche; mit anderen Worten - Pavel nahm Rücksicht.
Doch wenn man Rücksicht nimmt, kommt die
Geschichte immer verkrüppelt und verfälscht heraus. Nach
und nach wurde Pavels Stimme jedoch fester, die Erinnerungen
kamen so klar und kraftvoll - und da er selbst
seine eigene Erinnerung war, erlebte er seinen Bericht wie
die Realität. Je mehr er erzählte, desto sicherer wurde er,
als habe er endlich festen Boden unter den Füßen …
So bin ich also beim schwierigsten und kaum wiederzugebenden
Teil dieser Geschichte angelangt - bei den
Erzählungen Pavels über Warschau.
Was ich jetzt auch beschreibe, es wird an die tatsächliche
Kraft und Faszination dieser Erzählungen nicht herankommen,
und so wird der Eindruck, den sie beim alten
Hirten hinterlassen haben, gewissermaßen unerklärlich
bleiben. Vor allem möchte ich an das unnachahmliche
Erzähltalent Pavels erinnern, das alle seine Freunde bestätigen.
Meine Erzählung kann nur die Wiedergabe von
etwas sein, das aus einer natürlichen Kraft heraus geboren
war, seinen bestimmten Sinn und seine harmonische Einzigartigkeit
hatte. Deshalb werde ich jegliche literarischen
Versuche vermeiden und mich bemühen, die Glaubwürdigkeit
dieser Erzählungen weiterzugeben, wobei ich den
Leser um Vertrauen und etwas Fantasie bitte, damit er die
starken Eindrücke und den Charme nachempfinden kann.
Ebendiese Postkarte von Koko war der Anlass für
Pavel, mit seinen Geschichten aus Warschau zu beginnen.
Ich bin überzeugt, dass es auch ohne die Karte passiert
wäre, mit Anlass oder ohne, es wäre geschehen, denn es
war für Pavel selbst eine dringende Notwendigkeit.
Der chronologische Anfang war uninteressant. Ein
junger Ausländer, der zum ersten Mal in ein unbekanntes
Land kommt, sucht den ganzen Tag ein nicht existierendes
billiges Hotel und landet schließlich bei jenem Koko,
der ihn einlädt, bei ihm zu wohnen. Danach erklärte Pavel
kurz seinen Beruf und beschrieb die Stadt.
Der Alte schwieg und paffte. Es schien, als würden die
Worte des jungen Mannes ihren Weg im Dunkel aufwärts
zu den Zweigen der Eiche nehmen und den Alten wie einen
Fremdkörper meiden. Pavel störte sich nicht an seinem
Schweigen, er sprach immer fesselnder und offenbar bereits
in eine bestimmte Richtung. Plötzlich unterbrach ihn
der alte Jordo und fragte:
„Verbrennen sie ihre Toten, oder vergraben sie sie in
die Erde?“
Diese Frage war für den Alten offensichtlich sehr
wichtig. Pavel dachte nach, berichtete, was er wusste, und
setzte dann begeistert seine Reise durch Warschaus Straßen
fort.
Aus unerfindlichen Gründen erzählte er zunächst die
Geschichte mit Barbara. Vielleicht lag es am steinernen
Elefanten, vielleicht an den Springbrunnen auf der Postkarte,
oder vielleicht war es einfach die Macht der Gefühle
und der Geschichte selbst, was ihn dazu brachte, gerade
sie vorzuziehen. Denn Koko hatte ihm die Karte tatsächlich
geschickt, um ihn an Barbara zu erinnern.
Es war ein warmer Juliabend, die beiden saßen an ihren
Plätzen unter der Eiche, der Alte stopfte sich zum wer
weiß wievielten Mal seine Pfeife und betrachtete den rötlichen
Horizont. Pavel streckte sich auf der harten Erde
aus, und lächelnd und in sich gekehrt begann er wahrscheinlich
folgendermaßen:
„Eines Abends streunte ich mit Koko - diesen Namen
hab ich mir für ihn ausgedacht, denn bei den polnischen
verknotete sich meine Zunge - durch die Straßen, und wir
fragten uns, wohin wir gehen sollten. Dieser Koko ist
schon ein lustiger Kerl; er weiß nie, was er will, was er tut
und wohin er geht. Im Grunde ist das das Beste an ihm.
Er gehört zu jenen Menschen, die unbedingt überall
gleichzeitig sein wollen und dabei nirgends sind. Wenn er
allein ist, dann ist er nichts weiter als ein nacktes, unglückliches
Ei. Ist er aber in Gesellschaft, dann kann aus
ihm absolut alles schlüpfen, von der Mücke bis zum Elefanten.
Das Publikum ist sein Ein und Alles, der Arme
muss unbedingt Eindruck schinden. Wir waren also bis
gegen zwölf Uhr umhergezogen und hatten erst ein Bier
getrunken, als Koko beschloss, dass wir am anderen Ende
der Stadt einen Freund besuchen müssten. Wir brachen
zu Fuß auf, und um abzukürzen gingen wir durch den
Park, in dem ich zum ersten Mal Barbara gesehen habe.
Sie liefen an der Brüstung des Springbrunnens entlang
und starrten im nächtlichen Halbdunkel auf die Fontänen.
Das Wasser ergoss sich verführerisch über die Skulpturen,
und Koko redete unaufhörlich:
„Komisch, den ganzen Tag über bin ich schläfrig, doch
sobald es dunkel wird, werde ich munter. Die Finsternis
wirkt belebend auf mich … Schau! Schau!“, rief er Pavel
zu und zeigte auf eine der Figuren im Springbrunnen. Eine
Frau, die Hände zum Himmel erhoben, über deren Schultern
sich das Wasser ergoss. „Das ist nicht künstlich! Das
ist Naturalismus!“
„Das ist kein Naturalismus!“, antwortete plötzlich die
Figur mit klarer Frauenstimme, sodass beide mit aufgerissenen
Augen in das Dunkel starrten.
„Sondern?“, fragte Pavel, der sich als Erster wieder
gefangen hatte.
„Vergnügen“, meinte die Figur.
„Idiotie!“, rief Koko gereizt, der neben seiner eigenen
keine andere Extravaganz duldete. „Die Wichtigtuer
werden die Welt zugrunde richten! Ich wette, dass sie hier
steht und auf einen Dummkopf wartet!“
„Richtig geraten!“, sagte die Figur. „Ich hab schon so
lange auf euch gewartet!“
Pavel stieg über die Brüstung und platschte ins Becken.
Das Standbild bewegte sich nicht einen Millimeter. Es war
ein ganz junges Mädchen mit einer wirklich tollen Figur,
die sich unter dem nassen Kleid sehr deutlich abzeichnete.
„Recht so!“, sagte Pavel. „Doch Sie bilden keine Komposition!“
„Mir fehlt der Partner!“, gab sie zurück.
Pavel kam näher.
„Was sollen wir darstellen?“
„Uns selbst!“, antwortete sie. „Sie und ich, ich und
Sie!“
Pavel zögerte einen Augenblick, dann bückte er sich
und machte einen Handstand.
Jenseits der Brüstung begann Koko wie ein Pferd zu
wiehern und Menschen herbeizurufen:
„Bürger und Bürgerinnen!“, tönte er mit der Stimme
eines Marktschreiers. „Kommen Sie und sehen Sie sich
den Schädel Alexanders des Großen an, als er zwanzig,
dreißig, vierzig und sechzig Jahre alt war! Der Schädel
zum fünfzigsten ist uns leider auf der Reise von Wien
nach Budapest abhandengekommen!
Die Leute drängten heran und lachten.
Die Figur nieste plötzlich und sagte:
„Nach alldem wäre es ziemlich blöd, sich eine Lungenentzündung
zu holen!“
Die beiden stiegen aus dem Brunnen, nass bis auf die
Haut. Koko erklärte entschieden, er habe keine Lust, mit
nassen Irren herumzulaufen, und verschwand irgendwohin,
wie alle verschwinden, die sich überflüssig vorkommen.

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